Auswertungstext Ansprechgruppe 2003

Ansprechgruppe für sexualisierte Übergriffe
Zwischen Parteilichkeit und Täterkonfrontation


Immer wieder kommt es in den unterschiedlichen gemischtgeschlechtlichen Bewegungsszenerien der Radikalen Linken zu massiven Auseinandersetzungen über den politisch und sozial angemessenen Umgang mit sexistischen Übergriffen bzw. mit sexualisierter Gewalt. Dies erfolgt meist vor dem Hintergrund, dass der praktische Umgang mit einem konkreten (szene-internen) Fall wieder mal schief gelaufen oder gar nicht erst in die Gänge gekommen ist. Im Zuge des 6. Antirassistischen Grenzcamps in Köln (31.7.-10.8. 2003) (1) und der Aktionstage gegen das Ausreisezentrum Fürth (11.-14.9. 2003) (2) ist deshalb von vornherein ein anderes Herangehen versucht worden: Als Teil der generellen Camp- bzw. Aktionstagevorbereitung ist bereits im Vorfeld eine sogenannte ‚Ansprechgruppe für den Fall sexistischer Übergriffe‘ ins Leben gerufen und weithin (via Website, Eröffnungsplena und Flugblatt) bekannt gemacht worden. In diesem Text möchten wir berichten, erstens wie es zur Gründung dieser Gruppe gekommen ist und was ihre Grundsätze gewesen sind, zweitens wie die konkrete Arbeit gelaufen ist, drittens wie wir unsere Arbeit und unser ursprüngliches Konzept im Nachhinein einschätzen und viertens was wir daraus für die Zukunft schlussfolgern. Unser Text soll mehr sein als bloßer Bericht. Wir möchten vielmehr einen Beitrag zur generellen Debatte über den Umgang mit sexistischen/sexualisierten Übergriffen in linken Zusammenhängen leisten – und zwar auf der Grundlage einer Vielzahl konkreter Praxis- und Interventionserfahrungen, die wir diesbezüglich im vergangenen Sommer gesammelt haben. Einige unserer Erfahrungen sind zwar campspezifisch, wir glauben aber dennoch, dass sich vieles auch auf andere (szeneinterne) Alltagssettings in den einzelnen Städten und Regionen übertragen läßt – z.B. unsere Erfahrung, dass ”Parteilichkeit mit Betroffenen” und ”konfrontative Arbeit mit Tätern” durchaus zusammenpassen, mitunter sogar aufeinander angewiesen sind. Genau in diesem Sinne möchten wir unsere Auswertung als eine Sammlung von Bausteinen verstanden wissen, wie der praktische Umgang mit sexistischen/sexualisierten Übergriffen konkret aussehen kann.

1. Kurzer Rückblick

Auf dem 5. Antirassistischen Grenzcamp in Jena (Sommer 2002) war es zu einem schwerwiegenden sexistischen Übergriff gekommen. Dass die betroffene Frau überhaupt ihre Erfahrungen bekannt machen konnte, ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass sich zu Beginn der Aktionstage einige FrauenLesben spontan zu einer Ansprechguppe im Falle sexistischer Übergriffe zusammengefunden und dies auch auf einem Plenum bekannt gemacht hatten. Umgekehrt ist in Jena aber auch deutlich geworden, dass es eine Überforderung darstellt, ohne intensive Vorbereitung und ohne klares Konzept mit einem sexistischen/sexualisierten Übergriff auf einem Camp konfrontiert zu sein; Überforderung nicht nur für diejenigen, die sich – wie z.B. in Jena – spontan für die Aufgabe ‚Ansprechgruppe‘ bereit erklären, sondern auch für den Campzusammenhang als Ganzen. Denn kontroverse Grundsatzdebatten über den angemessenen Umgang mit sexistischen/ sexualisierten Übergriffen bei gleichzeitigem Handlungsdruck führen zu müssen, geht meistens schief. Genau das ist in Jena passiert, auch vor dem Hintergrund, dass dort stärker als bei den vorherigen Grenzcamps Menschen mit sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und Erfahrungshorizonten aufeinander getroffen sind.

Im Zuge der Jenaer Nachbereitung ist es allerdings gelungen, doch noch viele der auf dem Camp strittigen Fragen aufzuklären bzw. intensiver zu diskutieren. Auf der Grundlage weiterer Debatten (u.a. im Rahmen der sogenannten extra-meetings) ist hieraus schließlich unsere in mehrerlei Hinsicht gemischte ‚Ansprechgruppe im Falle sexistischer Übergriffe‘ hervorgegangen.

2. Selbstverständnis

In unserem auf beiden Camps in deutsch, englisch und französisch verteilten Papier ”Warum gibt es auf dem Camp eine Ansprechgruppe für den Fall sexistischer Übergriffe und was macht sie aus?” haben wir folgende Grundsätze formuliert:

”(…) Sexistische Gewalt betrifft mehrheitlich Frauen. Darüberhinaus sind auch Menschen betroffen, die sich nicht in das vorherrschende Schema der Zweigeschlechtlichkeit einfügen können bzw. wollen sowie alle diejenigen, die gegen die heterosexuelle Norm verstoßen wie z.B. Schwule, Lesben und Bi’s. Praktisch folgt hieraus, dass von der ‚betroffenen Person‘ die Rede ist, wenn es sich um die Person handelt, die von dem sexistischen Übergriff betroffen ist. Die Person, die den Übergriff begangen hat, wird als ‚Täter‘ bezeichnet, also mit der maskulinen Form, um der patriarchalen Realität Rechnung zu tragen, dass solche Übergriffe in erster Linie von Männern begangen werden. (…)

Im Falle eines sexistischen Übergriffs gliedert sich die Arbeit der Ansprechgruppe in drei Bereiche.

Erstens: Im Mittelpunkt steht die konkrete Unterstützung der betroffenen Person. Zweitens bedarf es der Auseinandersetzung mit dem Täter. Drittens muss die Camp-Community auf angemessene Weise unterrichtet werden, auch um Gerüchten vorzubeugen.

1. Die Unterstützung der betroffenen Person: Es ist die Aufgabe der Ansprechpersonen, die betroffene Person darin zu unterstützen herauszufinden, was sie braucht, um sich nach dem Übergriff (wieder) so sicher wie möglich fühlen zu können. Diese Unterstützung findet auf der Basis von Parteilichkeit statt. Mit Parteilichkeit ist gemeint, die Wahrnehmung der betroffenen Person nicht in Frage zu stellen. Nur sie kann sagen, als was sich der Übergriff für sie darstellt und nur sie sollte ihn benennen dürfen (Definitionsrecht). Dies heißt nicht, keine Fragen stellen zu dürfen, denn oft sind es gerade Fragen, die dabei helfen, Klarheit über Bedürfnisse zu bekommen bzw. wiederzuerlangen. Im Mittelpunkt der Arbeit als Ansprechpersonen steht also, einen ›Schutzraum‹ für die unterstützungsuchende Person wieder herzustellen, d.h. einen Raum wieder freizugeben. In diesem Sinne ist ein ›Schutzraum‹ keine Sanktion gegenüber dem Täter. Diesen Raum wiederherzustellen, muss nicht automatisch den Rauswurf des Täters bedeuten. Die betroffene Person kann z.B. auch – wenn sie das will – darin unterstützt werden, den Täter zu konfrontieren. Erfahrungsgemäß ist es allerdings eher zu erwarten, dass die betroffene Person möchte, dass der Täter das Camp verlässt. Die Ansprechpersonen betrachten es dann als Teil ihrer Aufgabe, den Täter aufzufordern, dieses zu tun und das gegebenenfalls – mit Unterstützung aus dem Camp – auch gegen seinen Willen durchzusetzen.

2. Umgang mit dem Täter: Es ist wichtig, dass eine Auseinandersetzung mit dem Täter stattfindet und er nicht einfach so vom Camp verschwindet. Dabei geht es nicht um unterstützende Täterarbeit – vielmehr geht es um Konfrontation, darum, vom Täter einzufordern, dass er sein Verhalten reflektiert und ändert. Denn Strukturen ändern sich nur, wenn sich auch die Menschen ändern. Außerdem ist es ein wichtiges Prinzip, dass Menschen, denen etwas vorgeworfen wird, das Recht haben sollten, gehört zu werden und ihre Sicht darzulegen. Dieses Recht stark zu machen, heißt allerdings nicht, das weiter oben ausgeführte Definitionsrecht der betroffenen Person in irgendeiner Form einzuschränken. Denn es ist die absolute Ausnahme, dass ein Mann fälschlicherweise als Täter beschuldigt wird. Insofern ist das Risiko, dass ein Mann zu Unrecht das Camp verlassen muss, um ein vielfaches kleiner als die umgekehrte Gefahr, dass eine Person, die von einem sexistischen Übergriff betroffen ist, zusätzliche Traumatisierungen erleidet, weil ihr Definitionsrecht relativiert wird (z.B. durch ›Nachforschungen‹, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen). Hieraus leitet sich auch ab, dass das Recht, gehört zu werden, nicht öffentlich ausgeübt werden darf, sondern nur im kleinen Rahmen, vorzugsweise im direkten Kontakt mit Menschen aus der Ansprechgruppe.

3. Bekanntmachung gegenüber dem Campzusammenhang: Eine dritte Aufgabe der Ansprechgruppe ist es, gemeinsam mit der betroffenen Person zu überlegen, in welchem Rahmen und auf welche Weise der sexistische Übergriff der allgemeinen Campöffentlichkeit bekannt gemacht werden soll. Ist ein Übergriff erstmal bekannt gemacht, sollte die Kommunikation darüber so sein, dass Verletzungen, Ängste und stereotype Sexismen nicht reproduziert werden und insbesondere die Glaubwürdigkeit der betroffenen Person nicht hinterfragt wird. Wahrscheinlich wird sich dies in einem derart heterogenen Großgruppenzusammenhang wie dem Grenzcamp nicht vermeiden lassen. Unter anderen deshalb ist es sinnvoll, dass es nach einem sexistischen Übergriff verschiedene Austausch- und Diskussionsräume gibt, z.B. FrauenLesben(Transgender)-Plena bzw. Männerplena für die, die das wünschen. In letzter Konsequenz liegt es in der Verantwortung aller Camp-TeilnehmerInnen, einen angemessenen Umgang mit sexistischen Übergriffen hinzubekommen.”

3. Personelle Zusammensetzung der Ansprechgruppe

In Köln waren wir in der Ansprechgruppe zehn, in Fürth sieben Personen, etwa gleich viel FrauenLesben und Männer. Politisch sind wir aus unterschiedlichen Zusammenhängen gekommen: aus FrauenLesben-Gruppen, aus selbstorganisierten Flüchtlingsorganisationen und aus autonomen antirassistischen Zusammenhängen. Unsere Altersspanne lag zwischen 28 und 51 Jahre. Die meisten von uns kannten sich schon lange und gut, andere haben sich erst in der Ansprechgruppe kennengelernt. Wir haben uns jeden Morgen getroffen, erstens um uns wechselseitig auf den aktuellen Stand zu bringen (sowohl in Sachen Ansprechgruppe als auch allgemein), zweitens um zu klären, welche Frau während des Tages Handybereitschaft hätte und drittens um abzustimmen, wer an welchen Aktionen und Veranstaltungen teilnehmen wolle und somit mehr oder weniger gut erreichbar wäre. Unsere gemeinsame Sprache war Englisch.

4. Was ist passiert? Ein kurzer Überblick

a) Köln: In Köln verging kein Tag, an dem wir nicht angesprochen wurden. Dabei waren die Anliegen unterschiedlich. Manchmal ging es schlicht darum, uns zu informieren bzw. darum, unsere Einschätzung ‚einzuholen‘; so erzählte uns z.B. eine Frau, sie hätte in der Nacht lange mit einer Frau, der Männer am Abend zuvor im Vokü-Bereich Geld für sexuelle Handlungen angeboten hätten, gesprochen und sie beruhigen müssen. Des weiteren hatte sie noch von einer anderen Frau gehört, die in gleicher Weise von Männern belästigt worden wäre. Die gegenüber uns geäußerte Einschätzung war, dass die Männer jeweils nicht vom Camp gewesen seien. In einem weiteren Fall berichtete eine Frau, dass sie in ihrem Zelt, das im FrauenLesbenTransgender-Bereich stand, einen Beutel mit männlichen Rasierutensilien gefunden habe. Neben der Frage, ob wir so etwas schon mal gehört hätten und wie wir das einschätzen würden, ging es auch darum, uns in Kenntnis zu setzen, damit wir ggf. Verbindungslinien herstellen könnten. Darüber hinaus haben sich immer wieder auch konkret betroffene Frauen an uns gewandt. Eine Frau sprach uns an, nachdem ihr ein Typ, den sie außerhalb des Camps kennengelernt hatte, entgegen ihrem erklärten Wunsch körperlich eindeutig zu nahe gekommen war, woraufhin sie sich losmachte und zum Camp zurücklief. In diesem Gespräch ging es auch darum, wie sie sich grundsätzlich sicherer auf dem Camp fühlen könnte. Eine weitere Frau hat sich an uns gewandt, weil sie in den frühen Morgenstunden, während sie vor ihrem Zelt schlief, von einem Typ angefasst worden ist. Sie hat den Typen in die Flucht geschlagen. Zwei von uns haben dann zusammen mit der Frau Warn- und Recherchezettel aufgehängt und waren zudem auch in den Tagen danach für sie ansprechbar. In den meisten Fällen, in denen wir angesprochen wurden, ging es ausschließlich um die konkrete Unterstützung der Frau und um das gemeinsame Ausloten ihrer Handlungsmöglichkeiten – und zwar aus dem schlichten Grund, dass die Täter nicht auffindbar waren bzw. nicht aufs Camp (zurück-) gekommen sind. Zwei Mal haben sich Frauen an uns gewandt, weil sie von Campteilnehmern sexistisch belästigt worden sind. In diesen Fällen kam auch unser gemischt-geschlechtliches Konzept zum Tragen, wonach es in erster Linie die Männer der Ansprechgruppe sind, welche sich mit (männlichen) Tätern auseinander-setzen. In einer Situation ging es darum, zweimal ein längeres und konfrontatives Gespräch mit einer Gruppe von fünf Männern zu führen; einer der Männer hatte sich (unter Zustimmung seiner ‚Kumpel‘) im Vokü-Bereich einer Frau gegenüber sexistisch verhalten. Diese Konfrontationsgespräche (welche wir auf Wunsch der betroffenen Frau hin geführt hatten) beschränkten sich nicht nur auf den konkreten Vorfall selbst. Vielmehr ging es auch um weitere, eng damit verknüpfte genderpolitische Fragen, unter anderem darum, was Lesbisch- und Schwul-Sein ist bzw. bedeutet sowie darum, weshalb Frauen, die ohne T-Shirt übers Camp-Gelände laufen, nicht in irgendeiner Form angegafft werden dürfen. Wir denken, dass dies äußerst fruchtbare Interventionen gewesen sind. Schließlich: In einer weiteren Situation musste ein Mann das Camp am letzten Tag verlassen, nachdem er am frühen Morgen eine Frau, die auf ihrer Matratze im Freien schlief (nach ihrer Entlassung aus dem Knast), massiv bedrängt hatte.

b) Fürth: Auf den insgesamt sehr viel kürzeren Aktionstagen in Nürnberg sind wir nur zwei Mal kontaktiert worden. Einmal ging es um unsere Einschätzung einer äußerst grenzwertigen Situation, die allerdings von anderen bereits gut und verantwortlich aufgelöst worden war. In einem anderen Fall war unser Handeln indessen gefragt. Wir möchten diesen Fall im Folgenden genauer darstellen; erstens, weil er uns noch Monate beschäftigt hat, zweitens, weil er erst in der ‚dichten‘ Beschreibung atmosphärisch halbwegs nachvollziehbar werden dürfte und drittens, weil sich in ihm unerwartet ein völlig neuer und zum Teil sehr widersprüchlicher bzw. überfordernder Raum in Sachen Ansprechgruppe aufgetan hat. Am letzten Abend haben wir erfahren, dass es in der Nacht zuvor in einem Zelt auf dem Camp zu einem schwerwiegenden sexualisierten Übergriff seitens eines Campteilnehmers auf zwei 12 bzw. 14 jährige Jungen gekommen war. Nach einem Gespräch mit den Jungen und ihren Vertrauenspersonen (die sie selber auf dem Camp kennengelernt hatten) konnten wir den Täter noch in der Nacht auf dem Camp ausfindig machen. In einem sofort um ca. 1 Uhr nachts anberaumtem Gespräch im Sanitätszelt (an dem von unserer Seite vier Leute teilgenommen haben) konfrontierten wir den Täter mit den Vorwürfen. Der Mann gab zwar zu, mit einem der Jungen etwas gekuschelt zu haben (weil diesem kalt gewesen wäre), bestritt im Kern aber die Vorwürfe. Wir sagten ihm, dass und warum wir den Jungen Glauben schenken würden und forderten ihn auf (gemäß des Wunsches der Jungen), das Camp innerhalb von 15 Minuten zu verlassen. Desweiteren forderten wir ihn auf, uns seinen vollen Namen und seine Adresse zu geben (seine Telefonnummer hatten wir bereits durch Zufall erhalten), eine Forderung, welcher der Mann nach einigem Zögern auch nachkam. Auf die in mehrerlei Hinsicht ‚tiefere‘, d.h. politische Bedeutung dieser von uns spontan und vorher nicht untereinander abgesprochenen ‚Personalienfeststellung‘ (denn nichts anderes war es) kommen wir weiter unten noch zu sprechen. Schließlich boten wir dem Mann an, sich mit zweien von uns am nächsten Tag an einem Ort außerhalb des Camps zu treffen. Am nächsten Morgen traf sich zunächst ein Mann aus unserer Ansprechgruppe mit den beiden Jungen. In diesem Gespräch berichteten die Jungen nochmal ausführlich über das Geschehene. Unmittelbar im Anschluss tauschten wir uns darüber in der Ansprechgruppe aus. Die beiden von uns (ein Mann und eine Frau), die sich mit dem Täter treffen wollten, machten sich sodann auf den Weg und trafen diesen um 11 Uhr an einer U-Bahn-Station in Fürth, von dort aus suchten sie zu dritt ein Cafe auf. Wir eröffneten das Gespräch (das insgesamt 3 Stunden dauern sollte) mit einer kurzen Selbstvorstellung: Wir sagten dem Mann, wer wir seien und was es mit der Ansprechgruppe auf sich habe; denn hierzu war es am Samstag-Abend im Sanitätszelt nicht mehr gekommen. Wir fragten ihn sodann, ob ihm seit dem gestrigen Abend noch Dinge eingefallen seien, die er jetzt erzählen wolle. Er verneinte und blieb bei der Version, dass er lediglich den einen Jungen umarmt habe. Wir erklärten ihm daraufhin nocheinmal, weshalb aus unserer Sicht die Erzählung der Jungen absolut glaubwürdig wäre. Auch gaben wir ihm zu verstehen, dass wir über das Vorgefallene im Bilde wären: Nach dem, was uns die Jungen erzählt hätten, könne es überhaupt keinen Zweifel daran geben, dass es sich nicht um eine bloße Umarmung gehandelt habe, sondern um gewaltförmige und sehr schmerzhafte Handlungen. Nichtsdestotrotz: Er blieb bei seiner Version. Stattdessen kam es zu allerlei direkt und indirekt mit dem Thema verknüpften Fragen – u.a. fragte er uns, was wir von Strafanzeigen, Gefängnissen, etc. hielten. Wir sagten ihm in diesem Zusammenhang, dass wir ihn von uns aus nicht anzeigen würden, denn unsere ‚Arbeitsphilosophie‘ basiere vorrangig auf Parteilichkeit bzw. Opferschutz: Wir würden versuchen, Opfer sexistischer Diskriminierung und Gewalt parteilich in dem zu unterstützen, was diese für sich als sinnvoll bzw. hilfreich bestimmen würden. Insofern sollten bzw. könnten aus unserer Perspektive nur die betroffenen Jungen darüber entscheiden, ob es zu einer Anzeige komme oder nicht. Er bat uns sodann, in ein ruhigeres Lokal zu wechseln – er wolle uns doch noch etwas sagen. In unserem neuen Lokal eröffnete er das Gespräch mit dem Eingeständnis, dass das, was die Kinder uns erzählt hätten, stimmen würde, und dass das, was passiert wäre, als Mißbrauch bezeichnet werden könnte. Hiermit hatte sich die Gesprächsgrundlage völlig verändert. Das Gespräch verlief sodann in zweierlei Richtung: Zum einen drehte sich viel um den Mann selbst, insbesondere seine (aktuellen) Ängste und Sorgen. Dies war unvermeidbar, weshalb wir uns umgekehrt immer wieder veranlasst sahen, den Mann darauf hinzuweisen, dass es im Kern weiterhin um den von ihm an den Jungen begangenen Mißbrauch ginge. Zum anderen sprachen wir – auch vor dem unmittelbaren Hintergrund unseres konkreten Gespräches – über notwendige Konsequenzen, die er aus unserer Sicht sofort zu ziehen habe: a) Wir sagten ihm, dass er sich in seinen sozialen Zusammenhängen als jemand ‚outen‘, d.h. bekannt machen müsse, der einen Mißbrauch an Kindern begangen habe. Dies sei vor allem deshalb notwendig, damit die Eltern aus seinem Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis entscheiden könnten, ob sie Kinder alleine mit ihm lassen wollten oder nicht. Außerdem sei dies im Interesse all der Menschen erforderlich, die ebenfalls (direkt oder indirekt) sexistische/sexualisierte Gewalterfahrungen gemacht hätten und die deshalb auf gar keinen Fall mit jemandem in einem Raum sitzen wollten bzw. Könnten (und ähnliches), der erst jüngst zwei Kinder sexuell mißbraucht habe. b) Wir forderten ihn desweiteren auf, ab sofort seine ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie seine Erwerbsarbeiten aufzugeben bzw. zu kündigen. Denn im Zuge unseres Gespräches hatte sich auf gezieltes Nachfragen unsererseits ergeben, dass der Mann nicht nur ehrenamtlich ständig mit Kindern und jungen Jugendlichen zu tun hat, sondern auch im Rahmen sämtlicher seiner Erwerbsarbeiten. Uns blieb deshalb keine andere Wahl, als auch diesen Hebel anzusetzen: Solange er nicht garantieren könne, dass er keine Gefahr für Kinder bzw. junge Jugendliche darstellen würde (und das könne er im Lichte der aktuellen Ereignisse ganz offensicherlich nicht garantieren) dürfe er keinen unbegleiteten Kontakt mit Kindern und jungen Jugendlichen haben. c) Wir legten ihm schließlich nahe, baldmöglichst mit einer Psychotherapie bei einem eigens ausgewiesenen Tätertherapeuten zu beginnen. Denn dort, wo die eigenen Probleme sich aggressiv gegen andere Menschen richten würden, sei die Frage, ob sich jemand mit seinen/ihren persönlichen Problemen auseinandersetzte oder nicht, keine ausschließlich private Angelegenheit mehr. Um diese Forderungen durchzusetzen, hatte einer von uns in den folgenden Monaten kontinuierlich Kontakt mit dem Täter – per e-mail und Telefon. In diesem Kontakt ging es vorrangig um die Umsetzung unserer Forderungen. Soweit wir das überprüfen konnten (durch direkte Nachfragen bei den Arbeitsstellen, etc. – die zum Teil alles andere als auskunftsfreudig waren), hat er erst einmal (!) alle unserer Forderungen erfüllt. Auch die Unterstützung der betroffenen Jungen ging nach dem Camp weiter: Eine ihrer Vertrauenspersonen kam aus der gleichen Region wie sie selbst; sie hat den Kontakt zu den Jungen fortgesetzt, auch mit Unterstützung eines Sozialarbeiters, der nicht auf den Aktionstagen gewesen ist. Wir als Ansprechgruppe standen unsererseits mehrere Wochen lang mit diesen und anderen Unterstützungspersonen- und institutionen in direktem Kontakt, allerdings nicht mehr mit den Jungen selbst. Last but not least: Wir haben auch mit dem politischen und sozialen Umfeld in der Herkunftsstadt des Mannes Kontakt aufgenommen. Das hat zum Teil gut, zum Teil aber auch gar nicht geklappt. Wir möchten hierüber nichts weiter schreiben, das müßten ggf. die betreffenden Zusammenhänge selber tun. Mittlerweile haben die Jungen Anzeige gegen den Täter gestellt. Der Prozess hat unseres Wissens nach noch nicht stattgefunden.

5. Einschätzung

a) Allgemeines: Grundsätzlich denken wir – und das wurde uns auf beiden Camps von vielen Seiten bestätigt, dass es bei events wie in Köln oder Fürth einer Gruppe bedarf, die im Falle sexistischer/sexualisierter Übergriffe verbindlich ansprechbar ist. Zunächst aus dem schlichten Grund, dass es ganz offensichtlich faktischen Bedarf an einer solchen Gruppe gibt. Darüberhinaus macht die bloße Existenz einer Ansprechgruppe auch deutlich, dass Personen, die von einem sexistischen Übergriff betroffen sind, tatsächlich mit ihren Erfahrungen wahr- und ernstgenommen werden. Das schafft ein generelles Gefühl von Aufgehobenheit und Sicherheit. Wir denken außerdem, dass die relative Selbstverständlichkeit, mit der z.B. im Rahmen der Delegiertentreffen in Köln sexistisches Verhalten immer wieder diskutiert wurde (sexistische Lieder an der Bar, Gaffer bei den Duschen, etc.), auch damit etwas zu tun hatte, dass die Tatsache, wonach auch in linken Zusammenhängen sexistisches Verhalten zum traurigen Alltag gehört, u.a. durch die Existenz einer Ansprechgruppe als ‚gesetzt‘ galt.

b) Parteilichkeit und Öffentlichkeit: Was die Unterstützung der von einem sexistischen Übergriff betroffenen Person angeht, so hat es sich als gut erwiesen, ihr zunächst den Raum zu bieten, in Ruhe erzählen und auf dieser Basis mit Unterstützung von außen überlegen zu können, was sie in der aktuellen Situation tatsächlich braucht. Bemerkenswert und für uns überraschend war, dass keine der betroffenen Personen gewünscht hat, dass der Übergriff bzw. die sexistische Situation im morgendlichen Delegiertentreffen oder im allgemeinen Plenum bekanntgegeben wird. Das ist sicherlich nicht verallgemeinerbar, verdeutlicht aber, dass die Bekanntmachung gegenüber dem Campzusammenhang aus Sicht der/s Betroffenen alles andere als selbstverständlich zu sein scheint. Die Situation in Fürth hat außerdem gezeigt, dass manchmal auch aus Gründen des Opferschutzes bzw. der Anonymität auf Bekanntmachung verzichtet werden muß. Schließlich gab es dort nur sehr wenige Kinder auf dem Camp, so dass schnell Rückschlüsse auf die Identität der Jungen hätten gezogen werden können.

c) Konfrontativer Umgang mit dem Täter: Wir denken, dass sich unser Konzept der konfrontativen Täterarbeit absolut bewährt hat; dies schließt das Recht, gehört zu werden, ausdrücklich mit ein. Mit Täterschutz – diese Sorge wurde auf einer Veranstaltung formuliert, die wir auf dem Camp in Köln zu unserem Konzept angeboten haben – hat das in unseren Augen nichts zu tun. Eher im Gegenteil: So ist in Köln die Bereitschaft, überhaupt mit Tätern zu reden, Voraussetzung dafür gewesen, dem Wunsch mindestens einer betroffenen Frau nachkommen zu können. Abgesehen davon dürfte das betreffende Gespräch auch über die konkrete Sache hinaus einige positive Spuren hinterlassen haben (s.o.), hierfür war es aber wichtig, dass sich die beschuldigten Männer erstmal äußern konnten. Dieser Zusammhang zwischen Parteilichkeit und konfrontativer Täterarbeit ist in Fürth noch deutlicher zu Tage getreten: Hätten wir den Täter nur rausgeworfen (oder ihn, wie das sonst oft der Fall gewesen ist, ‚zusammengefaltet‘), dann wären andere, wie etwa die oben schon aufgelisteten Schritte gar nicht möglich gewesen. Hierzu gehörte leider auch, wie wir gleich noch schildern werden, eine freiwillige Aussage bei der Polizei, die einer von uns zugunsten der Anzeige der Jungen gemacht hat.

d) Überforderung, Machtfülle und Transparenz: Obwohl die meisten von uns in den letzten 10-15 Jahren regelmäßig persönlich, politisch und/oder (semi-)professionell mit sexistischer bzw. sexualisierter Gewalt zu tun gehabt haben, hat uns die Fürther Erfahrung sowohl zeitlich als auch emotional (was ab einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht mehr so einfach zu trennen war) ziemlich überfordert. Durch Beratung bei einem Tätertherapeuten und andere Unterstützungen glauben wir zwar, unsere Aufgabe letztlich einigermaßen gut hinbekommen zu haben, sie hat uns aber dennoch völlig erschöpft. Vor diesem Hintergrund haben wir die (vorläufige) Schlußfolgerung gezogen, dass sich zukünftige Ansprechgruppen möglichst von Anfang an für den Fall besonders schwieriger Fälle professionell erfahrene Menschen als Hintergrundbereitschaft ‚organisieren‘ sollten. Solche Professionellen könnten sich dann ganz ihrer Arbeit widmen, ohne von der Doppelrolle ‚politischeR AktivistIn‘ vs. ‚SozialarbeiterIn‘ zerrieben zu werden. Konkret haben wir an szenenahe Menschen gedacht, die zwar nicht (mehr) politisch aktiv sind, aber dennoch bereit wären, sich auf unentgeltlicher Basis für einen bestimmten Zeitraum bereit zu halten. Nicht minder unangenehm haben wir die von uns sehr real besessene und entsprechend erlebte Machtfülle (inklusive Sanktionsmacht) empfunden: Denn dadurch, dass es in Gestalt der Ansprechgruppe einen quasi camp-offiziellen Regelungsmechanismus gegeben hat, wie mit sexistischen/sexualisierten Übergriffen umzugehen sei, mussten wir eine unangenehme Erfahrung machen – zumindest in einem solch extremen Fall wie in Fürth: Die ungeheure und stets zweischneidige Macht, die eine soziale Gruppe (z.B. ein Camp) einzelnen ihrer Mitglieder gegenüber entfalten kann (wenn es etwa zur Verletzung gemeinsamer Werte kommt) schien plötzlich auf uns als konkrete Einzelpersonen übergegangen zu sein. Jedenfalls hatten manche von uns den Eindruck, dass wir dem Täter in Fürth als die Personifikation sozialer Macht schlechthin begegnet sind bzw. dass sich dies für ihn unweigerlich so darstellen musste (auch wenn wir uns stets bemüht haben, fair, ehrlich und so transparent wie möglich zu agieren). Besonders deutlich ist uns das in der bereits erwähnten Anfangssituation geworden, als es uns in relativ umkomplizierter Weise gelungen ist, eine Art Personalienfeststellung vorzunehmen (deren Zweck, wie wir uns später klar gemacht haben, einzig darin bestanden hat, sicherzugehen, dass sich dieser uns ja unbekannte Typ auf keinen Fall einfach aus dem Staub machen könnte). Einigen von uns ist es mit dieser Machtfülle richtig mies gegangen, auch vor dem Hintergrund, dass in dieser und anderen Situationen deutlich geworden ist, welches Potenzial des Machtmissbrauchs in solchen Situationen liegen kann. Für uns ist klar, dass dies keine Grund dafür sein kann, auf eine Ansprechgruppe zu verzichten und so die Opfer anderer bzw. größerer Macht- und Gewaltsituationen (wie z. B. die Jungen in Fürth) sich selbst zu überlassen. Allerdings müsste für die Zukunft nochmal genau diskutiert werden, wie durch Rotation und Transparenz Machtmissbrauch auf jeden Fall verhindert werden kann. Letzteres ist auch vor dem Hintergrund formuliert, dass ja ein Kontroll-Mechanismus in der ursprünglich beabsichtigten Weise kaum gegriffen hat: Wir waren im Vorfeld davon ausgegangen, dass die Camp-Öffentlichkeit von etwaigen Vorfällen auf die eine oder andere Weise unterrichtet werden würde und somit ggf. auch korrigierend eingreifen könnte. Dadurch jedoch, dass die meisten Betroffenen sich Anonymität gewünscht haben, ist das in dieser Form nicht aufgegangen. Vielleicht kann hier zukünftig ein erweiterter Unterstützungskreis der Ansprechgruppe (der in schwierigen Fällen ggf. zusammengerufen wird) weiterhelfen. Das ist diesbezüglich zwar kein neuer Gedanke, er hat durch Fürth aber nochmal neue Nahrung erhalten. (3) Am widersprüchlichsten ist für uns allerdings der Umstand gewesen, dass wir am Ende freiwillig mit der Polizei zu tun gehabt haben: Die Jungen haben sich in ihrer eigenen Auseinandersetzung (an der wir nicht direkt beteiligt waren) dafür entschieden, Anzeige gegen den Täter zu erstatten. Vor diesem Hintergrund war für uns aus zwei Gründen klar, dass wir die Jungen darin aktiv unterstützen würden: Erstens zeigen Erfahrungen, dass Prozesse rund um Vergewaltigung bzw. sexistische/sexualisierte Gewalt, aus denen nichts resultiert, stets schlimmer für die Betroffenen sind (im Sinne neuer Traumatisierungen) als Anzeigen, die gar nicht erst gestellt werden. Auf dieser Grundlage haben wir uns zu unserer freiwilligen Aussage bei den Bullen entschlossen. Schließlich haben wir unter anderem in Form des uns gegenüber gemachten Geständnisses durch den Täter über Kenntnisse verfügt, die ‚zu-Protokoll-zu-geben‘ es hoffentlich wahrscheinlicher gemacht haben, dass die Jungen mit ihrer Anzeige Erfolg haben werden. Wie mensch sich unschwer vorstellen kann, ist uns diese Entscheidung alles andere als leicht gefallen. Trotzdem stand sie für uns aus dem Prinzip der Parteilichkeit heraus eigentlich von Anfang an fest. Ab dem Zeitpunkt unserer Aussage bei den Bullen haben wir keinen Kontakt mehr mit dem Täter gehabt. Zweitens: Auch wenn wir von uns aus keine Anzeige bei den Bullen gemacht hätten (was allein schon das Prinzip der nicht-bevormundenden Parteilichkeit verbietet), so stehen wir unter den herrschenden patriarchalen Bedingungen Gerichtsprozessen in Sachen sexistischer/sexualisierter Gewalt nicht prinzipiell ablehnend gegenüber. Denn zahlreiche Erfahrungen zeigen, dass mitunter die durch einen (im Sinne des Opfers erfolgreichen) Gerichtsprozess erfolgte Objektivierung und somit Bestätigung erlittener Gewalterfahrung psychisch heilsam sein kann. Ein derartiger Heilungserfolg mittels bürgerlicher Strafjustiz mag unter emanzipatorischen Gesichtpunkten zwar irritierend anmuten, bleibt aber dennoch wahr. In einer widersprüchlichen Welt läßt sich halt nicht widerspruchsfrei agieren. Dies mussten auch wir erleben. In diesem Zusammenhang eine letzte Anmerkung: Sobald wir erfahren hatten, dass die Jungen ernsthaft über eine Anzeige nachdenken, haben wir einem ihrer Bezugspersonen Name und Adresse des Täters zukommen lassen. Ob wir dadurch die Anzeige letztlich ermöglicht haben, wissen wir nicht. Denn es gab mittlerweile auch andere in die Sache involvierte Menschen aus der Szene der Herkunftssstadt des Täters, die ggf. seine Adresse hätten besorgen können. Aber letztlich ist das auch gar nicht so wichtig. Denn, wie gesagt, das Prinzip der Parteilichkeit hat uns ohnehin zu unserer Entscheidung ‚geführt‘ und hat uns dadurch eine ganze Menge nur schwer aushaltbarer Widersprüche beschert.

e) Kinder als Betroffene sexualisierter Gewalt: Durch den sexualisierten Übergriff gegen zwei Jungen in Fürth wurden wir auf eine Leerstelle in unserem Konzept gestoßen: Wir haben solche Camps im Vorfeld in erster Linie als Erwachsenen-Veranstaltungen betrachtet und haben uns deshalb auch nur auf Erwachsene als mögliche Betroffene von sexistischer/ sexualisierter Gewalt eingestellt. In Nürnberg wurde klar, dass selbstverständlich auch Kinder als potenziell Betroffene in Betracht gezogen werden müssen. Deshalb sprechen wir in diesem Text (anders als in unserem Konzeptpapier) nicht nur von sexistischen, sondern auch von sexualisierten Übergriffen. Wir möchten hiermit einerseits zum Ausdruck bringen, dass sich Übergriffe auch gegen Kinder richten können und andererseits, dass solche Übergriffe vor allem mit Macht, Gewalt und Herrschaft zu tun haben. (4) Darüber, dass wir Kinder aus unserem Konzept ursprünglich ausgeblendet hatten, sind einige von uns im Nachhinein deprimiert gewesen – unter anderem vor dem Hintergrund, dass es ja bereits beim noborder-Camp in Strassbourg zu einem sexualisierten Übergriff auf Kinder gekommen war.

f) Schlussfolgerungen: Es dürfte deutlich geworden sein, dass es nach unserer Ansicht mehr als sinnvoll ist, auf Camps und ähnlichen events Ansprechgruppen für den Fall sexistischer/sexualisierter Übergriffe einzurichten. Alle, die darüber nachdenken, eine Ansprechgruppe o.ä. im von uns formulierten Sinne ins Leben zu rufen, sollten unseres Erachtens folgendes berücksichtigen: Eine gute Vorbereitung scheint uns absolutes A & O zu sein. In der konkreten Situation ist oft nicht die Zeit für lange Diskussionen verfügbar. Deshalb sollte sich die Gruppe auch größtenteils vorher kennen. Es kann, wie wir hoffentlich nachvollziehbar machen konnten, zu extremen Situationen kommen, deshalb sollten sich die Beteiligten nicht nur untereinander, sondern auch selber gut einschätzen können: Welche Kompetenzen bzw. Ressourcen haben sie und welche nicht? Letztlich kommt es nicht darauf an, dass alle alles können, sondern darauf, dass alle ‚Positionen‘ potenziell besetzt werden können. Denn was auf jeden Fall vermieden werden sollte, ist, bei potenziell Betroffenen Erwartungen zu wecken, diese aber im Ernstfall nicht erfüllen zu können. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf unsere (auch unter uns bislang nur andiskutierte) Idee ‚professioneller Hintergrundbereitschaft‘ verwiesen. Für eine solche Hintergrundbereitschaft könnte im Übrigen auch sprechen, dass unter ungünstigen Bedingungen die Teilnahme an einer Ansprechgruppe bedeuten kann, große Teile eines Camps an sich vorbeiziehen lassen zu müssen. Uns ist das zum Glück erspart geblieben, was aber nur daran gelegen hat, dass der sexualisierte Übergriff in Fürth erst am vorletzten Arbeitstag der Ansprechgruppe stattgefunden hat. Last but not least: Immer wieder ist im Kontext der Ansprechgruppe die Forderung erhoben worden, dass eine Ansprechgruppe auch für andere, z.B. rassistische oder behindertenfeindliche Übergriffe bzw. Angriffe zur Verfügung stehen müsste. Wir sind dieser Forderung immer schon mit großer Skepsis gegenüber gestanden – und fühlen uns darin durch unsere letztjährigen Sommererfahrungen einigermaßen bestätigt. Zum einen glauben wir, dass eine einzelne Gruppe von einer solchen Auftragsfülle sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht schlicht überfordert wäre. Die in den unterschiedlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen potenziell wurzelnden Gewalt-, Diskriminierungs- und Beleidigungsituationen sind viel zu unterschiedlich, als dass ein und dieselbe Gruppe es schaffen könnte, sämtlichen dieser Situationen halbwegs gerecht zu werden. Dies glauben wir nicht zuletzt deshalb, weil ja bereits unsere auf sexistische/sexualisierte Übergriffe ‚beschränkten‘ Erfahrungen äußerst verschieden gewesen und dementsprechend mit ziemlich unterschiedlichen Anforderungen einhergegangen sind. Zum anderen würde eine Ansprechgruppe, die für ganz unterschiedliche Aufgaben zuständig ist, mit einer Machtfülle (inklusive Sanktionsmacht) ausgestattet werden, die wir vor dem Hintergrund unserer eigenen, bereits geschilderten Erfahrungen äußerst problematisch fänden. In diesem Sinne begrüßen wir es, dass sich im Hinblick auf die diesjährige Anti-Lagertour (20.8.-5.9. 2004) jeweils Leute zusammengefunden haben (jedenfalls vorläufig), die unabhängig voneinander überlegen wollen, wie mit sexistischen/sexualisierten sowie rassistischen Übergriffen (im Kontext der Tour) politisch und sozial verantwortlich umgegangen werden kann.

Fußnoten

(1) www.nadir.org/camp03
(2) www.ausreisezentren.de
(3) Wie wichtig ein diesbezüglich genauer Umgang ist, zeigt im übrigen auch folgender Fall: Wir wurden in Köln einmal angesprochen, weil zwei CampteilnehmerInnen die Bullen aufs Camp holen wollten. Sie waren nachts beklaut worden und bestanden deshalb darauf, den von ihnen verdächtigten Typen anzuzeigen. Nach ihrem Verständnis seien sie Opfer geworden, weshalb sie auch unterstützt werden müssten. Das Infozelt wiederum hatte die beiden zu uns geschickt, weil wir uns doch bestimmt Gedanken über Anzeigen gemacht hätten. Zusammen mit einer weiteren Person konnten wir den beiden letztlich klar machen, dass ein linksradikales Camp mit Sicherheit keine Bullen aufs Camp holen würde, nur um eine Diebstahlsangelegenheit aufzuklären. Für uns ist der Fall vor allem deshalb problematisch gewesen, weil er uns eindrücklich vor Augen geführt hat, wie schnell und ‚unkontrolliert‘ mensch in die SchlichterIn-Rolle geraten kann und somit in eine potenziell machtvolle (Kontroll- und Sanktions-)Position.
(4) Ob diese Sprachregelung wirklich überzeugend ist, müsste noch im Detail diskutiert werden. Sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen wird in der Mehrzahl von Männern, aber in vielen Fällen auch von Frauen begangen. Natürlich müssen sexualisierte Übergriffe gegen Kinder immer auch im patriarchalen Kontext betrachtet und Gewalt von Männern gegen Mädchen auch in ihrem sexistischen Gehalt wahrgenommen werden. (Im übrigen gelten auch Jungen in den Augen mancher TäterInnen solange als nicht-männlich, wie sie noch keine signifikant sekundären Geschlechtsmerkmale ausgebildet haben). Schließlich stellt sich die Frage, ob mit der Begrifflichkeit der sexistisch-en/sexualisierten Übergriffe nicht zu stark der Umstand vernachlässigt wird, dass bei sexistischen/sexualisierten Übergriffen durchaus auch gewaltförmig aufgeladene sexuelle Bedürfnisse eine Rolle spielen können (was natürlich etwas völlig anderes ist als freiwillig eingegangene SM- Arrangements).